Eine Herde, die nur auf den Schäferhund hört

Ja ok… das klingt ein wenig theatralisch. Eine Herde ist erst einmal ein Kollektiv aus vielen Individuen. Zusammengehalten und angewiesen vom Schäfer, der seinen Hund als Werkzeug zur Kontrolle nutzt. Was passiert aber, wenn der Schäfer mal weg ist. Was macht der Hund, wenn er keine Anweisungen bekommt? Wird ihm langweilig? Fängt er an, selbst zu denken und eigene Entscheidungen zu treffen? Bricht die Herde aus und löst sich auf? Mit diesem Beispiel starte ich mal ein kleines Gedankenexperiment: Ist es möglich, dieses Szenario auf uns Menschen und unsere Zeit anzuwenden? 

Wir Menschen sehen uns auch als Individuen, aber meist als kleiner Teil eines großen Ganzen. Die Richtung, die ein Schäfer seinem Hund und damit der Herde gibt, könnte man beim Menschen als Trends bezeichnen. Sind rote Autos im Trend, sieht man vermehrt rote Autos. Gibt es in den Sozialen Netzwerken einen neuen Tanz zu einer bestimmten Musik, wird man in jedem zweiten Beitrag diesen Tanz sehen. Viel hat das eigentlich nicht mit Individualismus zu tun. Das, was gerade angesagt ist, wird vermehrt gemacht oder präsentiert; wie bei einer Schafherde. Sagt der Schäfer „Alle nach links“, führt der Hund die Herde nach links. 

Jetzt denken wir das Ganze mal weiter. Der Schäfer muss gerade telefonieren und ist für eine halbe Stunde weg. Was macht der Hund denn nun? Er führt die letzte Anweisung aus: Warten. Nun wird aus der Stunde aber zwei, und noch eine. Dem Hund wird langsam unruhig – nichts ist schlimmer als Stillstand. Außerdem driften die Schafe auseinander: ein paar ziehen nach rechts, ein paar nach links, ein paar auf den Fluss zu. On top wird er auch noch von lästigen Flöhen geärgert und schon hat er schlechte Laune. In unserer Welt könnte man das so interpretieren, dass wir bei der Masse an Möglichkeiten mitunter nicht wissen, was wir zu erst machen sollten. Was machen die meisten Menschen, wenn sie sich nicht entscheiden können? 

Richtig: Sie gucken, was auf Social Media so läuft. Scrollen, lustige Videos ansehen, hier und da mal eine Like geben und einen Beitrag kommentieren, der vielleicht gerade nicht gefällt. Der beißende Floh ist dann ein Gegenkommentar mit einer sehr kontroversen Meinung. Der Kampf gegen den Floh beginnt! Ein Kommentar folgt auf das andere, immer mehr schließen sich der „Diskussion“ an. Die Anführungszeichen zeigen schon, dass man hier vielleicht nicht von Diskutieren sprechen kann. Denn ganz schnell kann es passieren, dass solche Gespräche ausarten, respektlos und beleidigend werden. Hund gegen Floh eben: Der Hund beißt und kratzt sich und der Floh zwickt weiter.

Aber was machen denn die Schafe nun eigentlich? Bisher haben sie ruhig und entspannt auf der Wiese gefressen. Eines der Schafe bekommt aber nun mit, dass der Hund offenbar Probleme hat. Ein weiteres sieht das und beide gehen zu dem Hund und gucken, was da los ist. Der Hund schimpft und beschwert sich über den Floh. Das erste Schaf versteht sich gut mit dem Hund und möchte gern helfen. Das zweite allerdings mag den Hund nicht besonders und lacht über ihn und sein Misere. Nach und nach kommen mehr Schafe dazu und  schließen sich jeweils einer Seite an. Nun könnt ihr euch vorstellen, wie das Szenario auf der Weide aussieht: Zwei gespaltene Lager, die sich gegenseitig anblöken. 

Wenn euch das bekannt vorkommt, dann bewegt ihr euch vielleicht häufig in sozialen Netzwerken. Da kann es manchmal schon heiß her gehen. Die Hemmschwelle, unangemessene Kommentare abzugeben sinkt im Internet rapide ab. Man ist weitestgehend anonym und im besten Fall weit weg vom „Gegner“; da kann man auch schon mal unter die Gürtellinie greifen. Die Auswirkungen bis hin zur Eskalation sind den Meisten scheinbar relativ egal. Die Geschichte zeigt aber, was aus falschen, gut platzierten Worten entstehen kann. Das beste Beispiel ist der Sturm auf das US Kapitol im Januar  2021. Hunderte Anhänger des damaligen Präsidenten Donald Trump stürmten das Kapitol, nachdem Trump die Neuwahl verlor und in den sozialen Medien zur Revolution aufrief – kurz gesagt. 

Was nun auf der Weide passiert, sieht ähnlich aus: Das Geblöke wird lauter und lauter. Um den Hund und seinen Floh geht es schon lange nicht mehr. Die beiden haben sich inzwischen vertragen. Der Hund gewährt dem Floh Wohnrecht, wenn er verspricht, nach 21 Uhr mit dem Zwicken aufzuhören. Nur leider bekommt das kein Schaf mehr mit. Denn sie streiten immer noch darum, wer wen wann und warum beißen darf, ob Zwicken als Beißen gilt und so weiter. Ein Schaf geht auf ein andres los, denn es hat die Ehre verletzt, die nun verteidigt werden muss. In der Vergangenheit wurden zum Teil ganze Völker zum Schutz der Ehre vernichtet.

Hund und Floh versuchen zu schlichten, doch leider hat das ganze Geschehen eine Eigendynamik angenommen. Aus der kleinen Auseinandersetzung ist eine riesige Schlacht in der Herde entstanden. Zwei gespaltene Lager, für die nur noch die eigene Meinung zählt. Andere Tiere der Weide haben mitbekommen, was da los ist und die können fliegen! Der Streit verbreitet sich wie ein Lauffeuer… Beide Seiten gewinnen mehr und mehr Anhänger und das ohnehin schon große Chaos wird immer größer. Ihr wisst selbst, wie schnell sich eine Nachricht verbreiten und wie diese Menschen beeinflussen und lenken. Wie war denn euer Standpunkt zur Covid-19-Pandemie? Die Medien waren voll von Informationen zur Entwicklung und aktuellen Ereignissen. Gute Freunde wurden zu Meinungsgegnern auf dem persönlichen oder digitalen „Schlachtfeld“. Mit den Auswirkungen haben wir bis heute zu kämpfen.

Zwischen den verhärteten Fronten auf der Weide versucht eine kleine Gruppe von Schafen zu vermitteln und zwischen den Gegnern zu schlichten. Sie merken allerdings schnell, dass ihnen keiner zuhört und sie von beiden Seiten angegriffen werden. Da Sie keinen Sinn darin sehen, ihre Energie für eine sinnlose Sache zu opfern, ziehen sie resigniert davon. Wer weiß, was aus dieser Herde wird. Werden sich sich nun verstecken müssen, weil sie sich nicht für ein Lager entscheiden wollten und den Streit auch banal fanden? Werden sie weitere Anhänger finden, die sich Ihnen anschließen? Werden sie einen gemeinsamen Nenner finden und friedlich weiter leben?  

Wenn man sich aber unsere Gesellschaft genauer betrachtet, spielt sich dieses Szenario überall im Kleinen und Großen immer wieder ab. Jeden Tag wird es schwerer, zwischen den Fronten zu vermitteln und eine Einigung zu erzielen. Einfach friedlich die Meinung des Anderen respektieren, auch wenn sie anders ist. Ich habe das Gefühl, dass wir immer mehr verlernen, gut miteinander zu reden. Wir gucken zuerst, welchen Vorteil etwas für uns haben kann, anstatt das Beste für uns alle zu suchen. Denn ist es nicht eigentlich so: Wenn es allen gut geht, dann fehlt es jedem Einzelnen auch an nichts? #justsaying. Warum hätten Schafe, Hund und Floh nicht einfach 5 Minuten über eine Lösung nachdenken können? Die Herde ist nach diesem kleinen Konflikt tief gespalten und es gab große Verluste auf beiden Seiten. 

Wo wir gerade dabei sind: Was ist jetzt eigentlich mit dem Schäfer? Ja… der hatte auf dem Weg zurück zur Weide leider einen Unfall und liegt für unabsehbare Zeit im Krankenhaus. Es wird also keiner kommen, der den Streit zwischen den Schafen regelt und das Leben wieder in geordnete Bahnen lenkt. Versteht mich nicht falsch, ich sehe den Schäfer hier nicht als Diktator, Erlöser oder großen Messias. Eher als großes Ganzes für das wir alle kämpfen und einstehen sollten. Für das es sich lohnt, miteinander zu reden und Differenzen auszuhalten oder gar zu überwinden. Ich weiß nicht, was das große Ziel ist. Wir leben nun ein mal mit 8 Milliarden Menschen in einer kleinen WG namens Erde und der Mietvertrag ist für uns alle befristet. Lasst uns eine gute Miete zahlen!

Ich mach auch gern den Abwasch. 😉 

 

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